In diesem Beitrag beantworten wir folgende Fragen:
- In welcher Situation können Geschäftsführer für Steuerrückstände von Gesellschaften haften?
- Wie können sich Steuerpflichtige dagegen verteidigen, für die Schulden gesamtschuldnerisch haftbar gemacht zu werden?
Am 27. Februar 2005 hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache C-277/24 (Adjak) ein sehr wichtiges Urteil erlassen. Es betrifft die Haftung der Geschäftsführer für Steuerrückstände von Gesellschaften und kann ruhig als Durchbruch für diesen Kreis von Steuerpflichtigen bezeichnet werden.
Haftung der Geschäftsführer für Steuerschulden von Gesellschaften – polnische Regelungen
Zur Erinnerung: Nach den in Polen geltenden Regelungen haften die Geschäftsführer gesamtschuldnerisch für die Steuerschulden der Kapitalgesellschaften, vorausgesetzt, dass diese Schulden während der Ausübung ihres Amtes entstanden sind oder während der Ausübung ihres Amtes fällig geworden sind.
Das bedeutet, dass sowohl ehemalige Geschäftsführer von Gesellschaften (wenn die Steuerschuld zu dem Zeitpunkt entstanden ist, als sie in der Geschäftsführung waren) als auch völlig neue Geschäftsführer (wenn die Steuerschuld während der Ausübung ihres Amtes fällig geworden ist) haftbar gemacht werden können. Geschäftsführer haften gesamtschuldnerisch mit ihrem gesamten Vermögen für die Steuerrückstände der Gesellschaften, wenn sich die Zwangsvollstreckung in das Gesellschaftsvermögen als ganz oder teilweise fruchtlos erwiesen hat und die Geschäftsführung nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt hat.
Nach dem polnischem Recht und der polnischen Praxis kann ein Geschäftsführer nicht Beteiligter in einem Ermittlungs- und Festsetzungsverfahrens sein (weil die Gesellschaft Beteiligte in diesem Verfahren ist), und es ist nicht möglich, das Bestehen der Haftung der Gesellschaft in Frage zu stellen.
Hinzu kommt, dass die Geschäftsführer oft gar nicht wissen, dass ein Verfahren gegen die Gesellschaft geführt wird, weil sie nicht mehr in der Geschäftsführung sind. Sie haben für Schulden zu haften, die in der Zeit entstanden sind, in der sie ihr Amt im Unternehmen ausgeübt haben.
In der Praxis können Geschäftsführer in Verfahren wegen ihrer gesamtschuldnerischen Haftung die Höhe der Steuerschuld nicht in Frage stellen, die in dem zuvor geführten Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren gegen die Gesellschaft festgestellt wurde.
Vor diesem Hintergrund hat das Woiwodschaftsverwaltungsgericht Wrocław dem EuGH eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt (Az. I SA/Wr 4/23 und I SA/Wr 966/22), ob einem Geschäftsführer das Recht auf eine wirksame Verteidigung gegen das Bestehen einer Steuerschuld, für die er mit seinem gesamten Vermögen haftbar gemacht werden kann, genommen werden kann. Beim Gericht kamen Zweifel auf, ob polnische Regelungen und Praxis, die nicht erlauben, dass ein Geschäftsführer die im Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren gegen die Gesellschaft festgestellte Schuld nicht in Frage stellen kann, mit den Unionsvorschriften u.a. über das Recht auf eine gute Verwaltung, das Recht auf ein faires Verfahren und über das Verteidigungsrecht vereinbar sind.
Entdecken Sie unsere Dienstleistungen
Wegweisendes Urteil des EuGH: EU-Richter stellten sich auf die Seite der gesamtschuldnerisch haftenden Geschäftsführer
Der EuGH stellte fest, dass polnische Regelungen und polnische Praxis, die es den Geschäftsführern der Gesellschaft nicht erlauben, Beteiligte im Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren gegen die Gesellschaft zu sein, mit dem EU-Recht vereinbar sind. Gleichzeitig stellte der EuGH jedoch eindeutig fest, dass ein Geschäftsführer das Recht haben muss, die Tatsachenfeststellungen in dem Verfahren gegen die Gesellschaft wirksam in Frage zu stellen und die Einsicht in die Akten dieses Verfahrens zu erhalten (was in den polnischen Regelungen und in der polnischen Praxis bisher nicht vorgesehen war).
Folgen des EuGH-Urteils für Steuerpflichtige
Obwohl der EuGH festgestellt hat, dass die polnischen (sehr restriktiven) Regelungen nicht im Widerspruch zum EU-Recht stehen, sollten sie in erheblichem Umfang ergänzt werden.
Das Urteil des EuGH räumt den polnischen Steuerpflichtigen das Recht ein, tatsächliche und rechtliche Feststellungen in Frage zu stellen und die Einsicht in die Fallakten der Gesellschaft zu erhalten. Diese beiden Rechte können bereits im Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren gegen einen Geschäftsführer ausgeübt werden.
Nach Auffassung des EuGH sollten die Geschäftsführer das Recht haben, nicht nur die Prämissen, die ihre Haftung für die Steuerschuld der Gesellschaft beweisen, in Frage zu stellen, sondern auch die Höhe der Steuerschuld der Gesellschaft. In der Praxis bedeutet dies, dass die Geschäftsführer nicht „automatisch” für die Steuerschulden der Gesellschaft haftbar gemacht werden, wenn sich die Zwangsvollstreckung in ihr Vermögen als fruchtlos erwiesen hat. Die Akteneinsicht und die Möglichkeit, den Sachverhalt in Frage zu stellen, bedeuten das Recht auf eine echte Verteidigung gegen die Übernahme von Steuerrückständen, die sich oft auf riesige Millionenbeträge belaufen.
EuGH-Urteil und die Möglichkeit der Wiederaufnahme abgeschlossener Verfahren
Das EuGH-Urteil gibt nicht nur denjenigen Steuerpflichtigen die Verteidigungsmöglichkeit, gegen die ein Verfahren wegen gesamtschuldnerischer Haftung anhängig ist, oder solchen, bei denen ein Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren gegen die Gesellschaft anhängig ist. Die Geschäftsführer, gegen die das Verfahren bereits abgeschlossen wurde und auf die die Haftung für Steuerschulden der Gesellschaft übertragen wurde, haben die Möglichkeit, einen Antrag auf die Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen und den Bescheid bzw. das Urteil anzufechten und die von ihnen gezahlten Beträge zurückzufordern.
Die Fristen für die Einreichung eines Wiederaufnahmeantrags sind jedoch kurz und betragen:
- 1 Monat ab der Veröffentlichung des Urteils im Amtsblatt der EU – im Falle von Verfahren vor den Finanzbehörden,
- 3 Monate ab der Veröffentlichung des Urteils – im Falle von Verfahren vor Verwaltungsgerichten.
Das Urteil des EuGH soll in den nächsten Wochen veröffentlicht werden, weshalb die von dem Problem der gesamtschuldnerischen Haftung der Gesellschaft betroffenen Geschäftsführer bereits jetzt die notwendigen Maßnahmen zur Wahrung ihrer Interessen ergreifen können. Da oft große Geldbeträge auf dem Spiel stehen, deren Zahlung vermieden werden kann, lohnt es sich, die Unterstützung der professionellen Steuerberater in Anspruch zu nehmen, die Ihnen die Vertretung gegenüber den Finanzbehörden anbieten können.